Paul-Celan-Vertonungen

Nachdem ich in den letzten Jahren einige Gedichte von Paul Celan für Frauenkammerchor a cappella vertont habe, bin ich kürzlich gefragt worden, was dabei mein kompositorischer Ansatz gewesen ist. Meine spontane Antwort: Hören! – Doch was stand und steht für mich im Mittelpunkt des Hörens, worauf kommt es mir an?

Zuallererst ist es die Sprache Celans, sein Sprechen, das mich berührt und überzeugt wie kaum ein anderes lyrisches Sprechen. Ich versuche es nicht bloß „inhaltlich“ zu verstehen, sondern erlebe es wirklich durchgehend als musikalisches Geschehen! Musikalisch heißt: ich höre eine unermeßlich lebendige und doch gebändigte Vielfalt von Sprachklang und -rhythmus, dessen Momente sich in der Gesamtform des Gedichtes wie Glieder eines Zeitorganismus ausnehmen. Und diese musikalischen Gestaltungen sind dann wieder innig verwoben mit dem, was üblicherweise als Gedicht-Inhalt bezeichnet wird; anders gesagt, ohne diese Musikalität wäre der Inhalt nicht der Inhalt! Also, im Hören dieser genialen Sprachschöpfungen trenne ich nicht zwischen Inhalt und Musikalität.
Wenn ich ans Komponieren gehe, kenne ich ein Gedicht meist schon seit Jahren, kann es längst auswendig, habe es mir einverleibt. Indem ich es innerlich aufrufe, versuche ich mir den Klang von chorisch singenden Frauenstimmen zu vergegenwärtigen, diesen faszinierend ausdrucksstarken und facettenreichen Klang, und wenn ich Glück habe, verbindet sich dabei die besagte Sprachmusikalität mit der Erfahrung des Singens zu einem gebärdenhaft tönenden Prozeß, den ich dann – meist mit Hilfe des Klaviers – sehr oft variiere bzw. prüfend wiederhole und dabei immer mehr präzisiere. Nicht selten notiere ich eine Passage erst, wenn sie auf diese Weise schon fertig erübt worden ist… Dem kompletten Stück können aber nochmalige Eingriffe widerfahren – etwa wenn ich nach Tagen wieder hineinhöre und bemerke, daß „mein innerer Hörer“ doch noch nicht zufrieden ist.

Ich strebe mit jedem Sück eine unverwechselbare Charakteristik an; so wie der jeweilige Text sein Eigenwesen hat, soll auch der entstehende Gesang einen jeweils spezifischen Ausdruck haben – was aber nicht heißt, daß ich den Gedicht-Inhalt „illustrieren“ würde! Eher könnte man von einer Art Vermählung von poetischer Sprache und Musik sprechen. Als Musiker – nicht zuletzt als improvisierender Pianist und Vokalist – bin ich ja ständig mit den Möglichkeiten unseres Tonsystems sowie mit rhythmischen und formalen Phänomenen beschäftigt, und diese Erfahrungen lassen mich auch beim Komponieren ganz verschiedene musikalisch-strukturelle Ideen und Prinzipien ins Spiel bringen – was den Stücken ein jeweils eigenes Gepräge gibt und den Zuhörern möglichst unverwechselbare Empfindungsräume eröffnet. Mit der Bindung an herkömmliche Tonarten hat alldies zwar nichts mehr zu tun; dennoch halte ich mich durchaus an gewisse Festlegungen: etwa an Kombinationen von Skalen und Akkorden, die ich interessant und geeignet finde, gelegentlich an intervallische Spiegelungen ganzer melodisch-harmonischer Prozesse, teils auch an strenge Kanon-Strukturen…

Meine entscheidende Bindung besteht wie gesagt im Primat des Hörens, sowohl beim Erzeugen als auch beim wiederholentlichen Prüfen alles Erklingenden. Was übrigens immer wieder bedacht und geprüft werden muß, ist die Sangbarkeit der notierten Vorgänge; bei aller Freude am strukturellen Experiment und bei aller Kühnheit des Ausdrucks sollen die Prozesse stimmlich immer noch gut zu bewältigen sein und sängerisch Freude bereiten.

Thomas Reuter, 2018