A-cappella-Gesang

Gestern Konzert mit meinen A-cappella-Schwestern. Für zeitgenössische Musik gut besucht, die Leute sitzen eine geschlagene Stunde da, ohne zwischendurch zu klatschen, andächtig, ein einziges Ohr. Der Saal hingegen ein akustisches Problem, das sich durchaus nachteilig auswirkt, gläsern harter Klang, die Stimmen verschmelzen kaum. Die Frauen kämpfen wacker und erobern den Raum – und wohl auch manches Herz…
Wenn man mal von außen „erklären“ wollte, was es bedeutet, komplexe A-cappella-Sätze zu singen, so könnte man ohne Übertreibung sagen: Wir schwimmen im selbsterzeugten Strom der Zeit und gliedern ihn dabei im Sinne exakter mathematischer Proportionen; die Fließgeschwindigkeit dieses Stromes haben wir in jedem Augenblick gemeinsam zu stabilisieren oder gezielt zu verändern. Dazu kommt, daß ja bereits die Einstimmigkeit es unbedingt erfordert, einen quasi geometrisch exakten Bezug aller verwendeten Töne und Zeitwerte herzustellen und in keinem Augenblick zu verlieren (selbst dies ist gar nicht selbstverständlich: einen innerhalb einer Melodie ab und zu wiederkehrenden Ton immer wieder exakt zu treffen). In der Mehrstimmigkeit kommt noch eine weitere Ton-Architektur hinzu, die „Harmonik“, die mit der Melodie-Architektur jeder einzelnen Stimme stets aktuell abgestimmt werden muß.

Wie würde ich „erklären“, was Harmonik ist? Zunächst Akkorde: diverse Gruppen jeweils gleichzeitig erklingender Töne in bestimmten charakteristischen internen Schwingungsverhältnissen; quasi-räumliche Klanggebilde, Wegstationen mit verschiedenen Verwandtschaftsgraden untereinander, deren jede eine bestimmte Aufgabe in der Folge solcher klingenden Ereignisse übernimmt. Also ein Sinnzusammenhang von Tonräumen, durch die wir hindurchschreiten wie durch die Räume eines Hauses – wobei wir als Singende die vom Komponisten vorgegebene Architektur jedes Raumes und des ganzen Hauses selbst hervorbringen und stabilisieren müssen. – Und dies, wie gesagt, in Abstimmung mit den Tonfolgen jeder einzelnen Stimme, deren auf „melodischer Logik“ beruhende Feinheiten sich allerdings den Nuancen der „harmonischen Logik“ mehr oder weniger anzuverwandeln haben…

Nicht zu trennen davon: der Sinn für die Qualitäten musikalischer Bewegung, für die Makro- und Mikrorhythmen, für alles Artikulatorische, für den Atem der musikalischen Phrasen, für die Feinheiten der „dynamischen“ Verläufe – korrespondierend mit den deklamatorischen Bewegungen der jeweils vertonten Wortsprache. Und alldies ebenfalls nicht zu trennen von den Anforderungen der im weitesten Sinne klangfarblichen Gestaltung, die ja eine ständige Arbeit an der Gesangstechnik erfordert – – aber ich sollte damit jetzt aufhören, denn ich will ja kein Buch über A-cappella-Gesang schreiben…

Thomas Reuter, 2018